Bewertung
Viktor Mayer-Schoenberger: Useful Void: The Art of Forgetting in the Age of Ubiquitous Computing
Working Paper Number:RWP07-022
Submitted: 24.04.2007
https://ksgnotes1.harvard.edu/Research/wpaper.nsf/rwp/RWP07-022
Mayer-Schönberger hält es für wünschenswert, dass die heute massenhaft abgespeicherten Informationen in ähnlichem Maße „vergessen“ werden können wie die früherer Generationen. Als ungeeignet dafür hält er die Einführung eines Datenschutzrechts europäischer Art, Änderungen der US-Verfassungsrechtssprechung oder die einfachste Lösung, einfach gar nichts zu unternehmen. Stattdessen schlägt er (mit einem theoretischen Rückgriff auf Lessigs „Code 2.0“) eine softwaretechnische Lösung vor, die jeder Information ein Datum beigibt, zu dem sie gelöscht wird. In den Bereichen, wo es so etwas schon gibt (Cookies, Überwachungskameras) plädiert er für eine möglichst kurze Löschfrist, die auch gesetzlich vorgeschrieben werden sollte. Bei von Menschen bewusst generierten Informationen setzt er auf eine bewusste Wahl des Haltbarkeitsdatums.
Das klingt angesichts des bisher nicht vorhandenen US-Datenschutzes alles ganz gut, aber verkennt doch, dass die Prämisse nicht stimmt: "For millennia, humans have had to deliberately choose what to remember. The default was to forget. In the digital age, this default of forgetting has changed into a default of remembering." Das ist zumindest für die Verwahrer der Informationen, die aus irgend einer Art von „Geschäftsgang“ stammen, nicht war, denn sie müssen seit langem aktiv Daten bewerten und Deakzession betreiben. Auf die Erfahrungen des gezielten Vergessens in der analogen Welt geht Meyer-Schönberger leider nicht ein, Archivtheoretisches fehlt ganz.
Er vernachlässigt zum Beispiel, dass der Zufall bei der von ihm favorisierten abgestuften technischen Lösung weitgehend ausgeschaltet würde und somit letztlich gar nichts von der heute als historisch unerheblich angesehenen Information unserer Tage übrigbleiben würde. Die zeitgenössische Bewertung, und die wäre bei dem Setzen von Höchsthaltbarkeitsdaten ja immer gefragt, hat aber Grenzen: der Informations- und Marktwert eines Adressbuchs von 1910 (das versehentlich nicht im Müll gelandet ist), eines Haushaltsbuchs mit Eintragungen über die Einkäufe dieses Jahres oder eines Tagebuchs mit lockeren Bemerkungen zum Tagesgeschehen ist erheblich höher als das einer teuren Familienbibel mit Goldschnitt aus dem gleichen Jahr, die feierlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Wären 1910 technische Mechanismen wie die vorgeschlagenen bereits möglich und allgemein eingeführt gewesen, wäre heute von all dem nur noch die Familienbibel übrig...
Working Paper Number:RWP07-022
Submitted: 24.04.2007
https://ksgnotes1.harvard.edu/Research/wpaper.nsf/rwp/RWP07-022
Mayer-Schönberger hält es für wünschenswert, dass die heute massenhaft abgespeicherten Informationen in ähnlichem Maße „vergessen“ werden können wie die früherer Generationen. Als ungeeignet dafür hält er die Einführung eines Datenschutzrechts europäischer Art, Änderungen der US-Verfassungsrechtssprechung oder die einfachste Lösung, einfach gar nichts zu unternehmen. Stattdessen schlägt er (mit einem theoretischen Rückgriff auf Lessigs „Code 2.0“) eine softwaretechnische Lösung vor, die jeder Information ein Datum beigibt, zu dem sie gelöscht wird. In den Bereichen, wo es so etwas schon gibt (Cookies, Überwachungskameras) plädiert er für eine möglichst kurze Löschfrist, die auch gesetzlich vorgeschrieben werden sollte. Bei von Menschen bewusst generierten Informationen setzt er auf eine bewusste Wahl des Haltbarkeitsdatums.
Das klingt angesichts des bisher nicht vorhandenen US-Datenschutzes alles ganz gut, aber verkennt doch, dass die Prämisse nicht stimmt: "For millennia, humans have had to deliberately choose what to remember. The default was to forget. In the digital age, this default of forgetting has changed into a default of remembering." Das ist zumindest für die Verwahrer der Informationen, die aus irgend einer Art von „Geschäftsgang“ stammen, nicht war, denn sie müssen seit langem aktiv Daten bewerten und Deakzession betreiben. Auf die Erfahrungen des gezielten Vergessens in der analogen Welt geht Meyer-Schönberger leider nicht ein, Archivtheoretisches fehlt ganz.
Er vernachlässigt zum Beispiel, dass der Zufall bei der von ihm favorisierten abgestuften technischen Lösung weitgehend ausgeschaltet würde und somit letztlich gar nichts von der heute als historisch unerheblich angesehenen Information unserer Tage übrigbleiben würde. Die zeitgenössische Bewertung, und die wäre bei dem Setzen von Höchsthaltbarkeitsdaten ja immer gefragt, hat aber Grenzen: der Informations- und Marktwert eines Adressbuchs von 1910 (das versehentlich nicht im Müll gelandet ist), eines Haushaltsbuchs mit Eintragungen über die Einkäufe dieses Jahres oder eines Tagebuchs mit lockeren Bemerkungen zum Tagesgeschehen ist erheblich höher als das einer teuren Familienbibel mit Goldschnitt aus dem gleichen Jahr, die feierlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Wären 1910 technische Mechanismen wie die vorgeschlagenen bereits möglich und allgemein eingeführt gewesen, wäre heute von all dem nur noch die Familienbibel übrig...
Ladislaus - am Freitag, 11. Januar 2008, 16:22 - Rubrik: Bewertung
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Dazu ein Bericht in: Brandenburgische Archive 2007
https://www.landeshauptarchiv-brandenburg.de/FilePool/Heft_24.pdf
https://www.landeshauptarchiv-brandenburg.de/FilePool/Heft_24.pdf
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Die Jungle World sieht dies so in ihrer Berichterstattung über die diesjährige Viennale über den frühen proletarischen Film in Österreich:
"...... Die proletarische Filmkultur Österreichs spielt im medialen Gedächtnis der Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Das hat damit zu tun, dass das Archivieren immer auch ein politischer Vorgang ist. Als Gedächtnisort ist das Archiv weniger eine neutrale Abbildung der Gesellschaft als vielmehr ein Produkt politischer Machtverhältnisse. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Zerstörung zahlreicher Filmdokumente zur Geschichte des proletarischen Kinos in der Ersten Republik während der austrofaschistischen und der NS-Zeit oft stillschweigend übergangen wurde. ..."
https://www.jungle-world.com/seiten/2007/42/10813.php
"...... Die proletarische Filmkultur Österreichs spielt im medialen Gedächtnis der Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Das hat damit zu tun, dass das Archivieren immer auch ein politischer Vorgang ist. Als Gedächtnisort ist das Archiv weniger eine neutrale Abbildung der Gesellschaft als vielmehr ein Produkt politischer Machtverhältnisse. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Zerstörung zahlreicher Filmdokumente zur Geschichte des proletarischen Kinos in der Ersten Republik während der austrofaschistischen und der NS-Zeit oft stillschweigend übergangen wurde. ..."
https://www.jungle-world.com/seiten/2007/42/10813.php
Wolf Thomas - am Donnerstag, 18. Oktober 2007, 09:37 - Rubrik: Bewertung
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Folgende Anfrage gebe ich weiter: Gibt es Literatur oder Erfahrungen mit der Bewertung von Erhebungsbögen der Volkszählung bzw. landwirtschaftlichen Zählungen der statistischen Landesämter?
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Bibliothek als Archiv, hrsg. von Hans Erich Böddeker/Anne Saada (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 221), Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-35869-6
Das Göttinger Kolloquium, das dem Band zugrundeliegt, fand bereits im März 2003 statt, siehe
https://archiv.twoday.net/stories/15744/
Interdisziplinär will man sein, aber irgendwelche Reflexionen, dass es eine eigene Disziplin gibt, die sich mit Archiven befasst, sucht man vergebens. Die zweisprachige (de-fr) Einleitung der Herausgeber ("Bibliotheksarchive als Quelle der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte") ist mit dem üblichen postmodernen Geschwurbel angereichert, das sich um den Begriff Archiv rankt. Glücklicherweise weisen die meisten bibliotheksgeschichtlichen Fallstudien des Bandes solide empirische Quellenarbeit auf. Eine neue Epoche der Bibliotheksgeschichte läutet dieser Sammelband gewiss nicht ein.
Noch am ehesten mit archivischer Arbeit zu tun hat der Aufsatz von Helmut Rohlfing: "Sagen sie nicht, daß das Archiv unbeträchtlich sey" - J. D. Reuß und das erste Findbuch zum Göttinger Bibliotheksarchiv (S. 71-88). 1763 und 1802 wurde angeordnet, dass alles auf die Bibliothek bezügliche Schriftgut der Universität ins Bibliotheksarchiv verbracht werden sollte (S. 73). Dass diese Bildung eines provenienzwidrigen Pertinenz-Selekts nicht mit modernen Standards vereinbar ist, wird mit natürlich mit keiner Silbe erwähnt.
Ob im Göttinger Universitätsarchiv der gesamte Bestand von 1945 bis 1970 ebenfalls unverzeichnet und damit unbenutzbar wäre?
Sich über (illegale) Bibliotheksarchive auszulassen, ohne die facharchivische Dimension wenigstens kurz anzureißen, ist schon ein starkes Stück.
Illegal sind weit zurückreichende Bibliotheksarchive deshalb, weil es sich dabei um von den Archivgesetzen nicht erlaubte Behördenarchive handelt. Sobald das Schriftgut nicht mehr für die laufende Verwaltung - dazu zählt nicht die historische Forschung - benötigt wird, ist es an das zuständige Archiv abzugeben. Ausnahmen sehen die Archivgesetze nicht vor.
Die Praxis sieht anders aus. Behördenarchive werden auf Dauer geduldet. Mitunter gibt es sogar förmliche Vereinbarungen zwischen den Bibliotheken und dem zuständigen Archiv (so z.B. im Fall der Württembergischen Landesbibliothek). Daher wird man das folgende Zitat aus dem Archivar 2005 cum grano salis nehmen müssen: "„Behördenarchive“, die sich der im Landesarchivgesetz
verankerten Pflicht zur Anbietung aussonderungsreifen
staatlichen Schriftguts grundsätzlich entziehen würden,
gibt es heute in Stuttgart quasi nicht mehr." Quasi.
Der berühmteste Fall eines Behördenarchivs ist natürlich das Politische Archiv des Auswärtigen Amts, dessen Existenzberechtigung durch Erwähnung in einem Gesetz abgesichert werden sollte. Trotzdem sieht das Bundesarchivgesetz ein Archiv wie das des Auswärtigen Amts nicht vor. Erzwingen kann das zuständige Archiv eine Ablieferung nicht, die Duldung ist eine pragmatische Entscheidung angesichts der realen Machtverhältnisse: Gegen eine Universitätsbibliothek kann (das immer sehr viel kleinere) Universitätsarchiv nichts ausrichten.
Neben Bibliotheken verwahren auch Museen (dazu sind auch die wissenschaftlichen Sammlungen zu rechnen) und besonders traditionsreiche Schulen historische Unterlagen, die als Archivgut gelten müssen.
Zu einem Gymnasialarchiv in Hof:
https://archiv.twoday.net/stories/293827/
Was spricht gegen Behördenarchive?
* Eine Betreuung durch Facharchivare erfolgt nicht, auch wenn es ab und an zur Beratung des Behördenarchivs durch das eigentlich zuständige Archiv kommen mag.
* Die Bewertungskompetenz der Archivare wird umgangen, da die Behörde und nicht das Archiv über die Auswahl entscheidet.
* In der Regel sind die Benutzungsvorschriften der Archivgesetze nicht unmittelbar auf die Behördenarchive anzuwenden (Ausnahme: Bundesarchivgesetz, das auch für nicht abgelieferte Unterlagen gilt), auch wenn durch die Vorschriften des Archivgesetzes eine Ermessensreduktion zustande kommt.
* Verzeichnungsrückstände entziehen der Forschung wichtige Quellen.
* Die datenschutzrechtlichen Ermächtigungsnormen der Archivgesetze gelten nicht für Behördenarchive.
Was spricht für die faktische Duldung von Behördenarchiven?
* Die Erforschung der eigenen Geschichte ist bei Sammlungen wie Bibliotheken und Museen ein wichtiger Faktor der Selbstdarstellung. Die enge Verbindung der Objekte und der auf sie bezüglichen Dokumentation, die durch Überführung in ein womöglich weit entferntes Archiv gelöst würde, ist sachgemäß. Die in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen Provenienzforschungen lassen sich am besten im eigenen Haus durchführen.
* Es ist nicht gesagt, dass Bestandserhaltung, Bewertungsprinzipien (rigider Zwang der Staatsarchive zur schmalen Auswahl), Verzeichnungsgrundsätze (bibliothekarische Feinerschließung) oder Benutzungspraxis in jedem Fall nachteiliger für die Wissenschaft sind.
* Bibliotheken haben mehr Erfahrung mit der Digitalisierung von Beständen, die Chance ist größer, dass sie die Archivalien im Internet zugänglich machen.
*Ob eine Behörde rechtlich verselbständigt ist (z. B. als Stiftung), ist von archivfachlichen Gesichtspunkten unabhängig. So kann das Germanische Nationalmuseum (als Stiftung des öffentlichen Rechts) durch das (archivfachliche betreute) eigene Archiv die eigene Geschichte dokumentieren, während ein in die Behördenorganisation eingebundenes Museum nicht die Möglichkeit hat, einen Archivar anzustellen. Wenn es bei Archiven rechtlich selbständiger Körperschaften notfalls auch mit einer Beratung durch ein anderes Archiv getan ist, was die Erfüllung archivfachlicher Anforderungen angeht, spricht nichts dagegen, ausnahmsweise Behördenarchive zuzulassen, sofern sichergestellt ist, dass eine laufende archivfachliche Beratung erfolgt und archivfachliche Standards gewahrt werden. Das Behördenarchiv ist dann gleichsam eine "Außenstelle" des zuständigen Archivs.
Das Göttinger Kolloquium, das dem Band zugrundeliegt, fand bereits im März 2003 statt, siehe
https://archiv.twoday.net/stories/15744/
Interdisziplinär will man sein, aber irgendwelche Reflexionen, dass es eine eigene Disziplin gibt, die sich mit Archiven befasst, sucht man vergebens. Die zweisprachige (de-fr) Einleitung der Herausgeber ("Bibliotheksarchive als Quelle der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte") ist mit dem üblichen postmodernen Geschwurbel angereichert, das sich um den Begriff Archiv rankt. Glücklicherweise weisen die meisten bibliotheksgeschichtlichen Fallstudien des Bandes solide empirische Quellenarbeit auf. Eine neue Epoche der Bibliotheksgeschichte läutet dieser Sammelband gewiss nicht ein.
Noch am ehesten mit archivischer Arbeit zu tun hat der Aufsatz von Helmut Rohlfing: "Sagen sie nicht, daß das Archiv unbeträchtlich sey" - J. D. Reuß und das erste Findbuch zum Göttinger Bibliotheksarchiv (S. 71-88). 1763 und 1802 wurde angeordnet, dass alles auf die Bibliothek bezügliche Schriftgut der Universität ins Bibliotheksarchiv verbracht werden sollte (S. 73). Dass diese Bildung eines provenienzwidrigen Pertinenz-Selekts nicht mit modernen Standards vereinbar ist, wird mit natürlich mit keiner Silbe erwähnt.
Ob im Göttinger Universitätsarchiv der gesamte Bestand von 1945 bis 1970 ebenfalls unverzeichnet und damit unbenutzbar wäre?
Sich über (illegale) Bibliotheksarchive auszulassen, ohne die facharchivische Dimension wenigstens kurz anzureißen, ist schon ein starkes Stück.
Illegal sind weit zurückreichende Bibliotheksarchive deshalb, weil es sich dabei um von den Archivgesetzen nicht erlaubte Behördenarchive handelt. Sobald das Schriftgut nicht mehr für die laufende Verwaltung - dazu zählt nicht die historische Forschung - benötigt wird, ist es an das zuständige Archiv abzugeben. Ausnahmen sehen die Archivgesetze nicht vor.
Die Praxis sieht anders aus. Behördenarchive werden auf Dauer geduldet. Mitunter gibt es sogar förmliche Vereinbarungen zwischen den Bibliotheken und dem zuständigen Archiv (so z.B. im Fall der Württembergischen Landesbibliothek). Daher wird man das folgende Zitat aus dem Archivar 2005 cum grano salis nehmen müssen: "„Behördenarchive“, die sich der im Landesarchivgesetz
verankerten Pflicht zur Anbietung aussonderungsreifen
staatlichen Schriftguts grundsätzlich entziehen würden,
gibt es heute in Stuttgart quasi nicht mehr." Quasi.
Der berühmteste Fall eines Behördenarchivs ist natürlich das Politische Archiv des Auswärtigen Amts, dessen Existenzberechtigung durch Erwähnung in einem Gesetz abgesichert werden sollte. Trotzdem sieht das Bundesarchivgesetz ein Archiv wie das des Auswärtigen Amts nicht vor. Erzwingen kann das zuständige Archiv eine Ablieferung nicht, die Duldung ist eine pragmatische Entscheidung angesichts der realen Machtverhältnisse: Gegen eine Universitätsbibliothek kann (das immer sehr viel kleinere) Universitätsarchiv nichts ausrichten.
Neben Bibliotheken verwahren auch Museen (dazu sind auch die wissenschaftlichen Sammlungen zu rechnen) und besonders traditionsreiche Schulen historische Unterlagen, die als Archivgut gelten müssen.
Zu einem Gymnasialarchiv in Hof:
https://archiv.twoday.net/stories/293827/
Was spricht gegen Behördenarchive?
* Eine Betreuung durch Facharchivare erfolgt nicht, auch wenn es ab und an zur Beratung des Behördenarchivs durch das eigentlich zuständige Archiv kommen mag.
* Die Bewertungskompetenz der Archivare wird umgangen, da die Behörde und nicht das Archiv über die Auswahl entscheidet.
* In der Regel sind die Benutzungsvorschriften der Archivgesetze nicht unmittelbar auf die Behördenarchive anzuwenden (Ausnahme: Bundesarchivgesetz, das auch für nicht abgelieferte Unterlagen gilt), auch wenn durch die Vorschriften des Archivgesetzes eine Ermessensreduktion zustande kommt.
* Verzeichnungsrückstände entziehen der Forschung wichtige Quellen.
* Die datenschutzrechtlichen Ermächtigungsnormen der Archivgesetze gelten nicht für Behördenarchive.
Was spricht für die faktische Duldung von Behördenarchiven?
* Die Erforschung der eigenen Geschichte ist bei Sammlungen wie Bibliotheken und Museen ein wichtiger Faktor der Selbstdarstellung. Die enge Verbindung der Objekte und der auf sie bezüglichen Dokumentation, die durch Überführung in ein womöglich weit entferntes Archiv gelöst würde, ist sachgemäß. Die in den letzten Jahren immer wichtiger gewordenen Provenienzforschungen lassen sich am besten im eigenen Haus durchführen.
* Es ist nicht gesagt, dass Bestandserhaltung, Bewertungsprinzipien (rigider Zwang der Staatsarchive zur schmalen Auswahl), Verzeichnungsgrundsätze (bibliothekarische Feinerschließung) oder Benutzungspraxis in jedem Fall nachteiliger für die Wissenschaft sind.
* Bibliotheken haben mehr Erfahrung mit der Digitalisierung von Beständen, die Chance ist größer, dass sie die Archivalien im Internet zugänglich machen.
*Ob eine Behörde rechtlich verselbständigt ist (z. B. als Stiftung), ist von archivfachlichen Gesichtspunkten unabhängig. So kann das Germanische Nationalmuseum (als Stiftung des öffentlichen Rechts) durch das (archivfachliche betreute) eigene Archiv die eigene Geschichte dokumentieren, während ein in die Behördenorganisation eingebundenes Museum nicht die Möglichkeit hat, einen Archivar anzustellen. Wenn es bei Archiven rechtlich selbständiger Körperschaften notfalls auch mit einer Beratung durch ein anderes Archiv getan ist, was die Erfüllung archivfachlicher Anforderungen angeht, spricht nichts dagegen, ausnahmsweise Behördenarchive zuzulassen, sofern sichergestellt ist, dass eine laufende archivfachliche Beratung erfolgt und archivfachliche Standards gewahrt werden. Das Behördenarchiv ist dann gleichsam eine "Außenstelle" des zuständigen Archivs.
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https://www.fotostoria.de/?p=884
Mein Senf:
*Fotografennachlässe sind wertvolles Kulturgut, bei dem die Gesamtarchivierung (abgesehen von Redundanzen) das Verfahren der ersten Wahl sein sollte.
* Die Maxime "Ganz oder gar nicht" vermeidet subjektiv gefärbte Auswahlverfahren.
Mein Senf:
*Fotografennachlässe sind wertvolles Kulturgut, bei dem die Gesamtarchivierung (abgesehen von Redundanzen) das Verfahren der ersten Wahl sein sollte.
* Die Maxime "Ganz oder gar nicht" vermeidet subjektiv gefärbte Auswahlverfahren.
Aus dem reichen Inhalt des Rundbriefs 26 der ev. Kirchenarchive
In der Arbeitsgruppe 3 [des treffens der norddeutschen Kirchenarchivare 2006] behandelte Dr. Brage Bei der Wieden, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, den archivarischen Umgang mit Massenakten, deren Entstehung auf die Funktionen
des modernen Interventions- und Sozialstaats zurückzuführen ist. Für die Archive stellt sich verschärft das Problem ihrer Aufbewahrung/Kassation. Entsprechend den Empfehlungen des 1965 erstellten Döll-Gutachtens führte Niedersachsen 1984 das Stichprobenverfahren ein, gegen das 1993 Bedenken wegen mangelnder Repräsentativität erhoben wurden. So ist der Aktenbestand nicht abgeschlossen und damit fehlt die exakte Bezugsgröße, nach dem Zufallsprinzip wird nur jede 100. Akte aufbewahrt, und die Betriebslisten der steuerpflichtigen Betriebe ändern sich permanent. Außerdem fand ein Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft statt weg von Strukturen zum Individuum. Der erfolgte Übergang zum Prinzip der Überlieferung besonderer Fälle, impliziert jedoch Probleme mit der Bewertungskompetenz des Archivars, da solche Verfahren nicht standardisiert werden können. (Warnung: „dicke Akten" können durch Korrespondenz mit Querulanten/Kopien aufgebläht und dann nicht repräsentativ sein). Eine weitere Variante einer Samplebildung, die Klumpenstichprobe (Buchstabengruppe), ist hinsichtlich der Repräsentativität nicht unproblematisch, z.B. durch Unterrepräsentation von Ausländern in der Buchstabengruppe „H". Die Buchstabenauswahl ermöglicht keine Grundaussagen, dagegen die Dokumentation familiärer Zusammenhänge. Das Problem der Repräsentativität kann durch die Möglichkeiten der elektronischen Datenerarbeitung entschärft werden, indem über das Dokumentenmanagement Abgleiche/Korrelationen verschiedener Datenbanken möglich sind und/oder Ergänzungsdokumentationen angelegt werden. Die Erschließung von Massenakten sollte in jedem Fall flach sein, die Findbücher nur die notwendigsten Metadaten enthalten. Die in der Diskussion erwogene Bildung einer Kommission von Fachleuten, Historikern und Archivaren für die Bewertung und die Kassation von Akten lehnte der Referent wegen der oft interessengebundenen Argumentationen eines solchen Fachgremiums ebenso ab wie eine Bürgerbeteiligung. Bewertungen sollten allein dem Archivar vorbehalten bleiben. Es gibt also keine sicheren Verfahren, um repräsentative Samples zu bilden.
Siehe dazu auch:
https://archiv.twoday.net/stories/2699909/
In der Arbeitsgruppe 3 [des treffens der norddeutschen Kirchenarchivare 2006] behandelte Dr. Brage Bei der Wieden, Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, den archivarischen Umgang mit Massenakten, deren Entstehung auf die Funktionen
des modernen Interventions- und Sozialstaats zurückzuführen ist. Für die Archive stellt sich verschärft das Problem ihrer Aufbewahrung/Kassation. Entsprechend den Empfehlungen des 1965 erstellten Döll-Gutachtens führte Niedersachsen 1984 das Stichprobenverfahren ein, gegen das 1993 Bedenken wegen mangelnder Repräsentativität erhoben wurden. So ist der Aktenbestand nicht abgeschlossen und damit fehlt die exakte Bezugsgröße, nach dem Zufallsprinzip wird nur jede 100. Akte aufbewahrt, und die Betriebslisten der steuerpflichtigen Betriebe ändern sich permanent. Außerdem fand ein Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft statt weg von Strukturen zum Individuum. Der erfolgte Übergang zum Prinzip der Überlieferung besonderer Fälle, impliziert jedoch Probleme mit der Bewertungskompetenz des Archivars, da solche Verfahren nicht standardisiert werden können. (Warnung: „dicke Akten" können durch Korrespondenz mit Querulanten/Kopien aufgebläht und dann nicht repräsentativ sein). Eine weitere Variante einer Samplebildung, die Klumpenstichprobe (Buchstabengruppe), ist hinsichtlich der Repräsentativität nicht unproblematisch, z.B. durch Unterrepräsentation von Ausländern in der Buchstabengruppe „H". Die Buchstabenauswahl ermöglicht keine Grundaussagen, dagegen die Dokumentation familiärer Zusammenhänge. Das Problem der Repräsentativität kann durch die Möglichkeiten der elektronischen Datenerarbeitung entschärft werden, indem über das Dokumentenmanagement Abgleiche/Korrelationen verschiedener Datenbanken möglich sind und/oder Ergänzungsdokumentationen angelegt werden. Die Erschließung von Massenakten sollte in jedem Fall flach sein, die Findbücher nur die notwendigsten Metadaten enthalten. Die in der Diskussion erwogene Bildung einer Kommission von Fachleuten, Historikern und Archivaren für die Bewertung und die Kassation von Akten lehnte der Referent wegen der oft interessengebundenen Argumentationen eines solchen Fachgremiums ebenso ab wie eine Bürgerbeteiligung. Bewertungen sollten allein dem Archivar vorbehalten bleiben. Es gibt also keine sicheren Verfahren, um repräsentative Samples zu bilden.
Siehe dazu auch:
https://archiv.twoday.net/stories/2699909/
Üblicherweise wird eine gerichtliche Kontrolle der archivischen Entscheidung der Bewertung von Unterlagen strikt abgelehnt.
Es handle sich, so Bartholomäus Manegold (Archivrecht, 1999, S. 177) bei der Bewertung von Archivgut um einen "kontroll und weisungsfreien Bereich archivarischer Kompetenz. Der Begriff der 'Archivwürdigkeit' umschreibt als unbestimmter Gesetzesbegriff zugleich eine archivarische Einschätzungsprärogative, die ein Bewertungsmonopol des Archivars hinsichtlich historischer Archivwürdigkeit sichert. Daher scheidet auch eine gerichtliche Überprüfung des Ergebnisses der archivischen Bewertung etwa im Rahmen einer Klage eines Historikers auf Zulassung zur Nutzung oder im Rahmen einer [...] Klage des Archivs auf Übergabe oder einer Klage auf Löschung oder Vernichtung bestimmter personenbezogener archivwürdiger Unterlagen durch einen Angehörigen eines Betroffenen und eine "Klage auf Archivierung" bestimmter Unterlagen aus. Eine gerichtliche Kontrolle kommt allein bei grundsätzlicher Verkennung der Bedeutung der Archivwürdigkeit überhaupt und/oder einem völligen Ausfall bzw. offenkundigen Mißbrauch der Bewertungskompetenz in Betracht".
Noch kategorischer verneint ein subjektives Klagerecht Dieter Strauch, Das Archivalieneigentum, 1998, S. 312: Eine gesellschaftliche Kontrolle der Wertung oder ein einklagbares subjektives öffentliches Recht sei nicht beabsichtigt.
Wie ein Freibrief für Willkür liest sich die einzige in diesem Zusammenhang relevante Gerichtsentscheidung. Das VG Darmstadt führte 2003 zur Kassation aus:
"Auch gegen die Auswahl gerade dieser Akte bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Nach § 11 I HessArchivG entscheiden die öffentlichen Archivare im Benehmen mit der anbietenden Stelle über die Archivwürdigkeit der angebotenen Unterlagen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Archivs ist hierzu Einsicht in die angebotenen Unterlagen zu gewähren (§ 11 II HessArchivG). Eine Pflicht zu begründen, warum bestimmte Unterlagen als archivwürdig angesehen werden, besteht einfachgesetzlich nicht. Ob dies angesichts der Fülle des Materials in jedem Einzelfall nicht geleistet werden kann, wie der Bekl. meint, dürfte dabei nicht entscheidend sein. In formeller Hinsicht entscheidend ist, dass die Archivierung der Akte nicht der Zustimmung der abgebenden Stelle bedarf (vgl. § 11 II HessArchivG: „Benehmen“), ihr also nicht erläutert, begründet oder sonstwie erklärt zu werden braucht und die abgebende Stelle im Übrigen für das weitere Schicksal der sonst zur Vernichtung anstehenden Akte nicht verantwortlich ist. In materieller Hinsicht entscheidend ist, dass die Auswahl ein Akt wertender Erkenntnis ist, der keinen objektiv überprüfbaren Regeln folgt. Warum ein bestimmtes Schriftstück als geschichtlich wertvoll und daher als archivierbedürftig angesehen wird, bestimmt sich regelmäßig nach der subjektiven Einordnung des Vorgangs in Geschichte und Gegenwart durch den jeweiligen Betrachter. Die Auswahlentscheidung dürfte daher selbst dann nicht auf ihre objektive Richtigkeit überprüfbar sein, wenn sie kurz begründet wäre (z.B. „Archivierung wegen psychiatrischem Gutachten über Täter“ oder „Archivierung wegen der Begehungsform der Tat laut Opferangaben“ oder dergleichen). Es liegt in der Natur des Auswahlvorgangs, dass für die Frage, welche Akten einzeln oder in ihrer Gesamtschau die soziale Realität einer Epoche widerspiegeln, subjektive Einschätzungen und Betrachtungen bestimmend sind. Die objektive Erforderlichkeit der Archivierung einer Akte als historischer Vorgang lässt sich kaum je nachweisen. Deshalb wäre es auch nicht überraschend, wenn ein anderer Archivar, mithin eine andere fachkundige, zu sachgerechter Einordnung fähige Person, die Auswahlentscheidung von Archivrat H nicht teilen würde, weil er dem Vorgang keine historische Bedeutung beimisst. Denkbar ist auch, dass sich die Einschätzung zwar 1986, nicht aber mehr heute als geboten erweist, weil zum Beispiel inzwischen eine Vielzahl anderer Akten vergleichbaren Inhalts dem Staatsarchiv angedient worden sind. Die Vertretbarkeit der getroffenen Auswahlentscheidung lässt sich folglich weder durch ein Gericht noch durch einen Sachverständigen in objektivierbarer Weise überprüfen.
[...] Dem Kl. ist zuzugeben, dass die gerichtliche Kontrolle von Auswahlentscheidungen über die Archivierung von Behördenakten nur sehr eingeschränkt möglich ist und ein Betroffener es nur ausnahmsweise wird verhindern können, Unterlagen mit seinen persönlichen Daten der wissenschaftlichen Forschung zu entziehen. Dem steht gegenüber, dass die Daten - wie dargestellt - zu Lebzeiten des Betroffenen und noch lange Zeit danach praktisch niemandem zur Verfügung stehen und auch nach Ablauf der Schutzfristen nur Personen Zugang erhalten, die ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen können (§ 14 HessArchivG). Dem Persönlichkeitsschutz des Betr. ist bei verständiger Würdigung seiner schützenswerten Belange damit in ausreichendem Maße Rechnung getragen."
https://de.wikisource.org/wiki/Verwaltungsgericht_Darmstadt_-_Vernichtung_von_Archivgut
Das Gericht hat die Klage als zulässig, aber unbegründet abgewiesen, also die Klagebefugnis des Klägers bejaht: "Dass mit der Weitergabe einer Akte über ein gegen den Kl. gerichtetes Ermittlungsverfahren Belange des Kl. betroffen sein können, steht auch nach Auffassung der Kammer nicht in Frage.". Die mögliche Rechtsverletzung ergibt sich insbesondere durch den verfassungsrechtlich hoch angesiedelten Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts.
Das archivische "Unfehlbarkeits-Dogma" steht im Widerspruch zur verwandten Entscheidungspraxis bei der Bewertung, ob eine Sache oder Sachgesamtheit denkmalwürdig ist, also bleibenden Wert besitzt. Hier ist die Sachlage grundlegend anders: Betroffen ist der Eigentümer, der sich gegen die Eintragung seines Eigentums in die Denkmalliste oder denkmalschutzrechtliche Beschränkungen wehrt. Die Entscheidung über die Denkmaleigenschaft ist gerichtlich voll überprüfbar, auch wenn bei der Bewertung ein Beurteilungsspielraum der Denkmalschutzbehörde gegeben ist (Kleeberg/Eberl, Kulturgüter in Privatbesitz, 2. Aufl. 2001, Rdnr. 62) nicht zu. Die Rechtsprechung hat Kriterien entwickelt, mit der man die Denkmaleigenschaft und insbesondere auch den wissenschaftlichen Wert erfolgreich begründen kann.
Dritte können sich - das ist leider ständige Rechtsprechung im Denkmalschutzrecht - nicht auf das öffentliche Interesse an dem Erhalt eines Denkmals berufen und müssen jede Fehlentscheidung der Denkmalbehörde in Ermangelung einer Schutznorm, die ihnen ein einklagbares subjektives Recht verleiht, hinnehmen. Anders als im Naturschutz- und Verbraucherschutzrecht hat der Gesetzgeber bislang davon abgesehen, Verbänden ein eigenständiges Klagerecht einzuräumen. Dies habe ich kritisiert:
https://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/dondig.htm
Strauch ist offenkundig nicht der Ansicht, die archivische Bewertung sei jeglicher Kontrolle entzogen. Ausführlich handelt er die Kassation als "interne Verwaltungsmaßnahme mit Beurteilungsspielraum" ab (S. 314ff.). Denn das fehlen subjektiver öffentlicher Rechte der Bürger schließt nicht aus, dass der kassierende Archivar wegen eines Beurteilungsfehlers intern zur Rechenschaft gezogen wird.
Strauchs Ausführungen über die strafrechtliche Verantwortung des kassierenden Archivars nach § 304 StGB (gemeinschädliche Sachbeschädigung) wird man angesichts der fehlenden Ahnung massiver Aktenvernichtungen im politischen Bereich (https://archiv.twoday.net/search?q=bundesl%C3%B6sch) nur theoretische Bedeutung zusprechen können. Nur wenig relevanter erscheint es, wenn Strauch in pflichtwidrigen Kassationen ein Dienstvergehen sieht.
Das VG Darmstadt betont im Grunde die Beliebigkeit der Bewertungsentscheidung und verzichtet auf jeglichen Rückgriff auf fachlich anerkannte Kriterien, als sei die ausgedehnte archivfachliche Bewertungsdiskussion überflüssiges Wortgeklingel, das die zutiefst subjektiven Wertentscheidungen der Archivare verbrämen soll. Wird ein Massenaktenbestand nicht nach einem Bewertungsprofil oder durch eine Stichprobenziehung bewertet, sondern durch Hausgreifen einzelner Akten nach dem Kriterium des "Besonderen", so wird man dem Gericht allerdings beipflichten müssen, dass es wahrscheinlich ist, dass ein anderer Archivar bezogen auf eine einzelne Akte anders entscheiden würde. Im Ergebnis ist das Urteil selbstverständlich korrekt: Wollte man beliebig vielen Betroffenen ein Veto hinsichtlich der Archivwürdigkeit "ihrer" Akten zubilligen, könnten sie jeglichen Versuch der Archivare, aufgrund nachvollziehbarer Maßstäbe zu bewerten (z.B. durch eine Zufallsstichprobe), vereiteln.
Die "Sicherung berechtigter Belange Betroffener oder Dritter" (Art. 2 Bay. Archivgesetz) hat Eingang in die Archivgesetze gefunden. Das Interesse einzelner Personen an dem sie betreffenden Schriftgut sei beiner Kassationsentscheidung zu berücksichtigen, meint Strauch S. 303. Problematisiert wurde diese Vorgabe bislang meines Wissens nicht, obwohl es bei näherer Betrachtung auf der Hand liegt, dass den Interessen individueller lebender Personen mit einer Verlängerung der Aufbewahrungsfristen Rechnung zu tragen ist (oder der Erteilung von Auskünften bzw. der Abgabe von Reproduktionen), aber nicht mit einer "Ewigkeitsgarantie" durch Zusprechen eines bleibenden Werts. Dass diesem schützenswerten Interesse Einzelner, das die Archivgesetze ausdrücklich anerkennen, kein subjektives öffentliches Recht auf gerichtliche Überprüfung der Bewertungsentscheidung korrespondieren soll, leuchtet nicht ein. Allerdings wäre es sinnvoller, ein Verbandsklagerecht hinsichtlich des Bewertungszeitpunkts de lege ferenda vorzusehen. Werden beispielsweise 90 % eines DDR-Massenaktenbestandes aus den 1950er Jahren für die Vernichtung freigegeben, obwohl sicher ist, dass sich in ihm zahlreiches bislang unbekanntes Beweismaterial etwa hinsichtlich offener Vermögensfragen oder einer Opferentschädigung befinden muss, so ist ein Rechtsbehelf, der den Aufschub der archivischen Bewertung um einige Jahre bewirkt, verfassungsrechtlich geboten. Die berechtigten Belange der Bürger wiegen hier sicher höher als der Wunsch der Archivare, den Bestand zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend zu kassieren.
Dagegen wird man die Erfolgsaussichten eines Strafgefangenen (nennen wir ihn: Herostrat), der "seiner" Akte historischen Wert zuspricht und ihre Archivierung fordert (also das Gegenteil des Darmstadter Falls), extrem skeptisch bewerten müssen. Ein Verwaltungsgericht dürfte die Klage von vornherein als unzulässig bewerten. In der Regel wird man angesichts bestehender Einsichtsmöglichkeiten des Herostrat eine Lösung durch Abgabe von Reproduktionen, die Herostrat beliebigen anderen (Privat)archiven andienen kann, finden können, um dem möglicherweise legitimen "Verewigungsinteresse" zu genügen.
Anders verhält es sich, wenn ein Wissenschaftler aufgrund des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) eine gerichtliche Überprüfung der Bewertungsentscheidung fordert. Ob diese begründet ist, mag dahingestellt sein. Entgegen der Ansicht von Manegold kann sich durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit eine Klagebefugnis ergeben, da die irreversible Entziehung eines Forschungsobjekts tatsächlich die grundrechtlich geschützten Belange des Wissenschaftlers zu beeinträchtigen geeignet ist. Es ist sehr wohl denkbar, eine analoge abwehrrechtliche Argumentationskette für diesen Fall aufzubauen, wie sie Manegold bei der Bejahung eines verfassungsunmittelbaren Anspruchs auf Archivbenutzung vorgeschlagen hat.
Die von Manegold konzedierte Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle in einem Extremfall wird von ihm nicht weiter erläutert. Man kann an das Willkürverbot (Art. 3 GG) denken: "Das Willkürverbot ist verletzt, wenn sich bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken ein sachgerechter Grund für eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt nicht finden läßt (BVerfGE 55, 72, 89 f.; 78, 232, 248)".
https://www.rws-verlag.de/bgh-free/volltext6/vo97599.htm
Wenn es denkbar ist, dass Beurteilungsfehler bei der Kassation im Rahmen eines Disziplinarverfahrens erörtert werden, ist eine gerichtliche Kontrolle der Bewertung trotz Beurteilungsspielraums des Archivars sehr wohl ebenfalls zu leisten, wenn es um die Klage eines von Kassationen betroffenen Wissenschaftlers geht. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Klage nur dann sinnvoll ist, wenn der Forscher von der bevorstehenden Kassation weiss und ein Zeitfenster für eine - ggf. im Eilverfahren zu treffende - verwaltungsgerichtliche Entscheidung gegeben ist.
Ist eine Kassation nach sachlichen Gesichtspunkten schlechthin nicht vertretbar, muss die Möglichkeit für den betroffenen Wissenschaftler bestehen, diese Willkürmaßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen. Die Kassationsentscheidung wäre dann als gravierender Eingriff in die Forschungsfreiheit zu sehen, zu dessen Abwehr Art. 5 GG berechtigt.
In diesem Fall hätte nicht der Archivar, sondern das Gericht das Letztentscheidungsrecht. Wieso im Bereich des Archivrechts etwas grundsätzlich anderes gelten soll als im Bereich des Denkmalschutzrechts, das ebenfalls mit Prognoseentscheidungen über den "Ewigkeitswert" kultureller Güter befasst ist, ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber wäre von der Verfassung nicht gehindert, die Bewertungskompetenz der Archivare etwa durch Beteiligung eines wissenschaftlichen Beirats oder durch die Forderung, die Bewertung solle im "Einvernehmen" mit der abliefernden Behörde erfolgen (statt wie bisher nur im "Benehmen") zu relativieren. Der Gesetzgeber nützt ja bereits jetzt die Möglichkeit, bestimmte Quellengruppen staatlicher Unterlagen durch strikte gesetzliche Vernichtungsverpflichtungen von der Bewertung auszunehmen. Er könnte umgekehrt bestimmte positive Entscheidungen über die Bewertung von Unterlagen treffen, indem er etwa die Archivwürdigkeit der Stasi-Unterlagen oder von Unterlagen aus der NS-Zeit von Gesetzes wegen feststellt.
Wäre das "Hohepriesteramt" der Archivare von jeglicher Kontrolle ausgenommen, könnte schimmstenfalls nicht garantiert werden, dass kein archivisches "Wahrheitsministerium" (George Orwell "1984") die historische Überlieferung manipuliert. Manegold hat die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Neutralität zutreffend als "verfassungsrechtlich gebotenes Prinzip" bei der Bewertung bestimmt (S. 46). Ebenso kann man - wie er dies tut - mit dem Demokratieprinzip argumentieren. Wenn diese hehren Prinzipien aber in grober Weise verletzt werden - ist dann nicht ein Rechtsbehelf zwingend geboten?
Wenn der "weisungsfreie" Archivar angewiesen wird, die historische Überlieferung nach parteipolitischen Vorgaben zu bereinigen (angenommen die NPD käme an die Macht) - er müsste der Weisung gehorchen, da ihm keine Klagebefugnis zusteht. In einem solchen Fall eine gerichtliche Kontrolle zu verweigern, wäre offenkundig mit der Werteordnung der Verfassung unvereinbar.
In der Anhörung zum Bundesarchivgesetz führte der damalige Präsident des Bundesarchivs Booms aus, ihm sei kein einziger Fall der Kritik seitens der Forschung bekannt (S. 157). Das dürfte sich nur auf das Bundesarchiv beziehen, denn in der Zeitschrift "Archivpflege in Westfalen und Lippe" 1981 und 1983 hätte Booms Aufsätze der Volkskundler Kramer und Mohrmann lesen können, die Kritik an der Kassationspraxis von Massenakten übten.
Archivare sind, wenn sie bewerten, nicht unfehlbar. Eine Kontrolle ihrer Entscheidungen durch Wissenschaft, Öffentlichkeit und - notfalls - auch durch die Gerichte ist nicht nur sinnvoll, sondern auch geboten!
Es handle sich, so Bartholomäus Manegold (Archivrecht, 1999, S. 177) bei der Bewertung von Archivgut um einen "kontroll und weisungsfreien Bereich archivarischer Kompetenz. Der Begriff der 'Archivwürdigkeit' umschreibt als unbestimmter Gesetzesbegriff zugleich eine archivarische Einschätzungsprärogative, die ein Bewertungsmonopol des Archivars hinsichtlich historischer Archivwürdigkeit sichert. Daher scheidet auch eine gerichtliche Überprüfung des Ergebnisses der archivischen Bewertung etwa im Rahmen einer Klage eines Historikers auf Zulassung zur Nutzung oder im Rahmen einer [...] Klage des Archivs auf Übergabe oder einer Klage auf Löschung oder Vernichtung bestimmter personenbezogener archivwürdiger Unterlagen durch einen Angehörigen eines Betroffenen und eine "Klage auf Archivierung" bestimmter Unterlagen aus. Eine gerichtliche Kontrolle kommt allein bei grundsätzlicher Verkennung der Bedeutung der Archivwürdigkeit überhaupt und/oder einem völligen Ausfall bzw. offenkundigen Mißbrauch der Bewertungskompetenz in Betracht".
Noch kategorischer verneint ein subjektives Klagerecht Dieter Strauch, Das Archivalieneigentum, 1998, S. 312: Eine gesellschaftliche Kontrolle der Wertung oder ein einklagbares subjektives öffentliches Recht sei nicht beabsichtigt.
Wie ein Freibrief für Willkür liest sich die einzige in diesem Zusammenhang relevante Gerichtsentscheidung. Das VG Darmstadt führte 2003 zur Kassation aus:
"Auch gegen die Auswahl gerade dieser Akte bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Nach § 11 I HessArchivG entscheiden die öffentlichen Archivare im Benehmen mit der anbietenden Stelle über die Archivwürdigkeit der angebotenen Unterlagen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Archivs ist hierzu Einsicht in die angebotenen Unterlagen zu gewähren (§ 11 II HessArchivG). Eine Pflicht zu begründen, warum bestimmte Unterlagen als archivwürdig angesehen werden, besteht einfachgesetzlich nicht. Ob dies angesichts der Fülle des Materials in jedem Einzelfall nicht geleistet werden kann, wie der Bekl. meint, dürfte dabei nicht entscheidend sein. In formeller Hinsicht entscheidend ist, dass die Archivierung der Akte nicht der Zustimmung der abgebenden Stelle bedarf (vgl. § 11 II HessArchivG: „Benehmen“), ihr also nicht erläutert, begründet oder sonstwie erklärt zu werden braucht und die abgebende Stelle im Übrigen für das weitere Schicksal der sonst zur Vernichtung anstehenden Akte nicht verantwortlich ist. In materieller Hinsicht entscheidend ist, dass die Auswahl ein Akt wertender Erkenntnis ist, der keinen objektiv überprüfbaren Regeln folgt. Warum ein bestimmtes Schriftstück als geschichtlich wertvoll und daher als archivierbedürftig angesehen wird, bestimmt sich regelmäßig nach der subjektiven Einordnung des Vorgangs in Geschichte und Gegenwart durch den jeweiligen Betrachter. Die Auswahlentscheidung dürfte daher selbst dann nicht auf ihre objektive Richtigkeit überprüfbar sein, wenn sie kurz begründet wäre (z.B. „Archivierung wegen psychiatrischem Gutachten über Täter“ oder „Archivierung wegen der Begehungsform der Tat laut Opferangaben“ oder dergleichen). Es liegt in der Natur des Auswahlvorgangs, dass für die Frage, welche Akten einzeln oder in ihrer Gesamtschau die soziale Realität einer Epoche widerspiegeln, subjektive Einschätzungen und Betrachtungen bestimmend sind. Die objektive Erforderlichkeit der Archivierung einer Akte als historischer Vorgang lässt sich kaum je nachweisen. Deshalb wäre es auch nicht überraschend, wenn ein anderer Archivar, mithin eine andere fachkundige, zu sachgerechter Einordnung fähige Person, die Auswahlentscheidung von Archivrat H nicht teilen würde, weil er dem Vorgang keine historische Bedeutung beimisst. Denkbar ist auch, dass sich die Einschätzung zwar 1986, nicht aber mehr heute als geboten erweist, weil zum Beispiel inzwischen eine Vielzahl anderer Akten vergleichbaren Inhalts dem Staatsarchiv angedient worden sind. Die Vertretbarkeit der getroffenen Auswahlentscheidung lässt sich folglich weder durch ein Gericht noch durch einen Sachverständigen in objektivierbarer Weise überprüfen.
[...] Dem Kl. ist zuzugeben, dass die gerichtliche Kontrolle von Auswahlentscheidungen über die Archivierung von Behördenakten nur sehr eingeschränkt möglich ist und ein Betroffener es nur ausnahmsweise wird verhindern können, Unterlagen mit seinen persönlichen Daten der wissenschaftlichen Forschung zu entziehen. Dem steht gegenüber, dass die Daten - wie dargestellt - zu Lebzeiten des Betroffenen und noch lange Zeit danach praktisch niemandem zur Verfügung stehen und auch nach Ablauf der Schutzfristen nur Personen Zugang erhalten, die ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen können (§ 14 HessArchivG). Dem Persönlichkeitsschutz des Betr. ist bei verständiger Würdigung seiner schützenswerten Belange damit in ausreichendem Maße Rechnung getragen."
https://de.wikisource.org/wiki/Verwaltungsgericht_Darmstadt_-_Vernichtung_von_Archivgut
Das Gericht hat die Klage als zulässig, aber unbegründet abgewiesen, also die Klagebefugnis des Klägers bejaht: "Dass mit der Weitergabe einer Akte über ein gegen den Kl. gerichtetes Ermittlungsverfahren Belange des Kl. betroffen sein können, steht auch nach Auffassung der Kammer nicht in Frage.". Die mögliche Rechtsverletzung ergibt sich insbesondere durch den verfassungsrechtlich hoch angesiedelten Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts.
Das archivische "Unfehlbarkeits-Dogma" steht im Widerspruch zur verwandten Entscheidungspraxis bei der Bewertung, ob eine Sache oder Sachgesamtheit denkmalwürdig ist, also bleibenden Wert besitzt. Hier ist die Sachlage grundlegend anders: Betroffen ist der Eigentümer, der sich gegen die Eintragung seines Eigentums in die Denkmalliste oder denkmalschutzrechtliche Beschränkungen wehrt. Die Entscheidung über die Denkmaleigenschaft ist gerichtlich voll überprüfbar, auch wenn bei der Bewertung ein Beurteilungsspielraum der Denkmalschutzbehörde gegeben ist (Kleeberg/Eberl, Kulturgüter in Privatbesitz, 2. Aufl. 2001, Rdnr. 62) nicht zu. Die Rechtsprechung hat Kriterien entwickelt, mit der man die Denkmaleigenschaft und insbesondere auch den wissenschaftlichen Wert erfolgreich begründen kann.
Dritte können sich - das ist leider ständige Rechtsprechung im Denkmalschutzrecht - nicht auf das öffentliche Interesse an dem Erhalt eines Denkmals berufen und müssen jede Fehlentscheidung der Denkmalbehörde in Ermangelung einer Schutznorm, die ihnen ein einklagbares subjektives Recht verleiht, hinnehmen. Anders als im Naturschutz- und Verbraucherschutzrecht hat der Gesetzgeber bislang davon abgesehen, Verbänden ein eigenständiges Klagerecht einzuräumen. Dies habe ich kritisiert:
https://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/dondig.htm
Strauch ist offenkundig nicht der Ansicht, die archivische Bewertung sei jeglicher Kontrolle entzogen. Ausführlich handelt er die Kassation als "interne Verwaltungsmaßnahme mit Beurteilungsspielraum" ab (S. 314ff.). Denn das fehlen subjektiver öffentlicher Rechte der Bürger schließt nicht aus, dass der kassierende Archivar wegen eines Beurteilungsfehlers intern zur Rechenschaft gezogen wird.
Strauchs Ausführungen über die strafrechtliche Verantwortung des kassierenden Archivars nach § 304 StGB (gemeinschädliche Sachbeschädigung) wird man angesichts der fehlenden Ahnung massiver Aktenvernichtungen im politischen Bereich (https://archiv.twoday.net/search?q=bundesl%C3%B6sch) nur theoretische Bedeutung zusprechen können. Nur wenig relevanter erscheint es, wenn Strauch in pflichtwidrigen Kassationen ein Dienstvergehen sieht.
Das VG Darmstadt betont im Grunde die Beliebigkeit der Bewertungsentscheidung und verzichtet auf jeglichen Rückgriff auf fachlich anerkannte Kriterien, als sei die ausgedehnte archivfachliche Bewertungsdiskussion überflüssiges Wortgeklingel, das die zutiefst subjektiven Wertentscheidungen der Archivare verbrämen soll. Wird ein Massenaktenbestand nicht nach einem Bewertungsprofil oder durch eine Stichprobenziehung bewertet, sondern durch Hausgreifen einzelner Akten nach dem Kriterium des "Besonderen", so wird man dem Gericht allerdings beipflichten müssen, dass es wahrscheinlich ist, dass ein anderer Archivar bezogen auf eine einzelne Akte anders entscheiden würde. Im Ergebnis ist das Urteil selbstverständlich korrekt: Wollte man beliebig vielen Betroffenen ein Veto hinsichtlich der Archivwürdigkeit "ihrer" Akten zubilligen, könnten sie jeglichen Versuch der Archivare, aufgrund nachvollziehbarer Maßstäbe zu bewerten (z.B. durch eine Zufallsstichprobe), vereiteln.
Die "Sicherung berechtigter Belange Betroffener oder Dritter" (Art. 2 Bay. Archivgesetz) hat Eingang in die Archivgesetze gefunden. Das Interesse einzelner Personen an dem sie betreffenden Schriftgut sei beiner Kassationsentscheidung zu berücksichtigen, meint Strauch S. 303. Problematisiert wurde diese Vorgabe bislang meines Wissens nicht, obwohl es bei näherer Betrachtung auf der Hand liegt, dass den Interessen individueller lebender Personen mit einer Verlängerung der Aufbewahrungsfristen Rechnung zu tragen ist (oder der Erteilung von Auskünften bzw. der Abgabe von Reproduktionen), aber nicht mit einer "Ewigkeitsgarantie" durch Zusprechen eines bleibenden Werts. Dass diesem schützenswerten Interesse Einzelner, das die Archivgesetze ausdrücklich anerkennen, kein subjektives öffentliches Recht auf gerichtliche Überprüfung der Bewertungsentscheidung korrespondieren soll, leuchtet nicht ein. Allerdings wäre es sinnvoller, ein Verbandsklagerecht hinsichtlich des Bewertungszeitpunkts de lege ferenda vorzusehen. Werden beispielsweise 90 % eines DDR-Massenaktenbestandes aus den 1950er Jahren für die Vernichtung freigegeben, obwohl sicher ist, dass sich in ihm zahlreiches bislang unbekanntes Beweismaterial etwa hinsichtlich offener Vermögensfragen oder einer Opferentschädigung befinden muss, so ist ein Rechtsbehelf, der den Aufschub der archivischen Bewertung um einige Jahre bewirkt, verfassungsrechtlich geboten. Die berechtigten Belange der Bürger wiegen hier sicher höher als der Wunsch der Archivare, den Bestand zum jetzigen Zeitpunkt weitgehend zu kassieren.
Dagegen wird man die Erfolgsaussichten eines Strafgefangenen (nennen wir ihn: Herostrat), der "seiner" Akte historischen Wert zuspricht und ihre Archivierung fordert (also das Gegenteil des Darmstadter Falls), extrem skeptisch bewerten müssen. Ein Verwaltungsgericht dürfte die Klage von vornherein als unzulässig bewerten. In der Regel wird man angesichts bestehender Einsichtsmöglichkeiten des Herostrat eine Lösung durch Abgabe von Reproduktionen, die Herostrat beliebigen anderen (Privat)archiven andienen kann, finden können, um dem möglicherweise legitimen "Verewigungsinteresse" zu genügen.
Anders verhält es sich, wenn ein Wissenschaftler aufgrund des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) eine gerichtliche Überprüfung der Bewertungsentscheidung fordert. Ob diese begründet ist, mag dahingestellt sein. Entgegen der Ansicht von Manegold kann sich durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit eine Klagebefugnis ergeben, da die irreversible Entziehung eines Forschungsobjekts tatsächlich die grundrechtlich geschützten Belange des Wissenschaftlers zu beeinträchtigen geeignet ist. Es ist sehr wohl denkbar, eine analoge abwehrrechtliche Argumentationskette für diesen Fall aufzubauen, wie sie Manegold bei der Bejahung eines verfassungsunmittelbaren Anspruchs auf Archivbenutzung vorgeschlagen hat.
Die von Manegold konzedierte Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle in einem Extremfall wird von ihm nicht weiter erläutert. Man kann an das Willkürverbot (Art. 3 GG) denken: "Das Willkürverbot ist verletzt, wenn sich bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken ein sachgerechter Grund für eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt nicht finden läßt (BVerfGE 55, 72, 89 f.; 78, 232, 248)".
https://www.rws-verlag.de/bgh-free/volltext6/vo97599.htm
Wenn es denkbar ist, dass Beurteilungsfehler bei der Kassation im Rahmen eines Disziplinarverfahrens erörtert werden, ist eine gerichtliche Kontrolle der Bewertung trotz Beurteilungsspielraums des Archivars sehr wohl ebenfalls zu leisten, wenn es um die Klage eines von Kassationen betroffenen Wissenschaftlers geht. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Klage nur dann sinnvoll ist, wenn der Forscher von der bevorstehenden Kassation weiss und ein Zeitfenster für eine - ggf. im Eilverfahren zu treffende - verwaltungsgerichtliche Entscheidung gegeben ist.
Ist eine Kassation nach sachlichen Gesichtspunkten schlechthin nicht vertretbar, muss die Möglichkeit für den betroffenen Wissenschaftler bestehen, diese Willkürmaßnahme gerichtlich überprüfen zu lassen. Die Kassationsentscheidung wäre dann als gravierender Eingriff in die Forschungsfreiheit zu sehen, zu dessen Abwehr Art. 5 GG berechtigt.
In diesem Fall hätte nicht der Archivar, sondern das Gericht das Letztentscheidungsrecht. Wieso im Bereich des Archivrechts etwas grundsätzlich anderes gelten soll als im Bereich des Denkmalschutzrechts, das ebenfalls mit Prognoseentscheidungen über den "Ewigkeitswert" kultureller Güter befasst ist, ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber wäre von der Verfassung nicht gehindert, die Bewertungskompetenz der Archivare etwa durch Beteiligung eines wissenschaftlichen Beirats oder durch die Forderung, die Bewertung solle im "Einvernehmen" mit der abliefernden Behörde erfolgen (statt wie bisher nur im "Benehmen") zu relativieren. Der Gesetzgeber nützt ja bereits jetzt die Möglichkeit, bestimmte Quellengruppen staatlicher Unterlagen durch strikte gesetzliche Vernichtungsverpflichtungen von der Bewertung auszunehmen. Er könnte umgekehrt bestimmte positive Entscheidungen über die Bewertung von Unterlagen treffen, indem er etwa die Archivwürdigkeit der Stasi-Unterlagen oder von Unterlagen aus der NS-Zeit von Gesetzes wegen feststellt.
Wäre das "Hohepriesteramt" der Archivare von jeglicher Kontrolle ausgenommen, könnte schimmstenfalls nicht garantiert werden, dass kein archivisches "Wahrheitsministerium" (George Orwell "1984") die historische Überlieferung manipuliert. Manegold hat die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Neutralität zutreffend als "verfassungsrechtlich gebotenes Prinzip" bei der Bewertung bestimmt (S. 46). Ebenso kann man - wie er dies tut - mit dem Demokratieprinzip argumentieren. Wenn diese hehren Prinzipien aber in grober Weise verletzt werden - ist dann nicht ein Rechtsbehelf zwingend geboten?
Wenn der "weisungsfreie" Archivar angewiesen wird, die historische Überlieferung nach parteipolitischen Vorgaben zu bereinigen (angenommen die NPD käme an die Macht) - er müsste der Weisung gehorchen, da ihm keine Klagebefugnis zusteht. In einem solchen Fall eine gerichtliche Kontrolle zu verweigern, wäre offenkundig mit der Werteordnung der Verfassung unvereinbar.
In der Anhörung zum Bundesarchivgesetz führte der damalige Präsident des Bundesarchivs Booms aus, ihm sei kein einziger Fall der Kritik seitens der Forschung bekannt (S. 157). Das dürfte sich nur auf das Bundesarchiv beziehen, denn in der Zeitschrift "Archivpflege in Westfalen und Lippe" 1981 und 1983 hätte Booms Aufsätze der Volkskundler Kramer und Mohrmann lesen können, die Kritik an der Kassationspraxis von Massenakten übten.
Archivare sind, wenn sie bewerten, nicht unfehlbar. Eine Kontrolle ihrer Entscheidungen durch Wissenschaft, Öffentlichkeit und - notfalls - auch durch die Gerichte ist nicht nur sinnvoll, sondern auch geboten!
https://mdz1.bib-bvb.de/cocoon/bdlg/Blatt_bsb00000215,00034.html
Georg Hille [Archivrat in Schleswig, gest. 1911]: Die Grundsätze der Aktenkassation. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 49 (1901), S. 26-30 mit Diskussion S. 30-31
In der Diskussion übte Prof. Dr. von Zwiedineck (Graz) Kritik am Referenten Hille. Trotz ihrer wissenschaftlichen Vorbildung würden die Archivare meistens den "bureaukratischen Standpunkt einnehmen. Da die Archive aber auch wissenschaftliche Institute seien, müsse auch die Meinung des Historikers dabei befragt werden".
Georg Hille [Archivrat in Schleswig, gest. 1911]: Die Grundsätze der Aktenkassation. In: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 49 (1901), S. 26-30 mit Diskussion S. 30-31
In der Diskussion übte Prof. Dr. von Zwiedineck (Graz) Kritik am Referenten Hille. Trotz ihrer wissenschaftlichen Vorbildung würden die Archivare meistens den "bureaukratischen Standpunkt einnehmen. Da die Archive aber auch wissenschaftliche Institute seien, müsse auch die Meinung des Historikers dabei befragt werden".
Kassationsentscheidungen der Archive werden leider so gut wie nie öffentlich diskutiert.
Ich erinnere mich an einen Artikel der ZEIT wohl aus den 1990ern, bei dem es um die Vernichtung von ästhetisch wertvollen Firmenbriefköpfen durch das Hamburger Staatsarchiv ging.
Ob es zu dem mit beträchtlichem öffentlichen Wirbel verbundenen Fall der Vernichtung von NS-Gerichtsakten außer anmerkungsweiser Erwähnung durch Robert Kretzschmar eine publizierte archivfachliche Debatte gab, ist mir nicht bekannt. Ich möchte es eher kategorisch verneinen.
Auf den Casus spielt Lorenzen-Schmidt in einem Interview an:
"Die Übervorsichtigkeit im Hause wurde noch gesteigert durch den nicht ganz archivgerechten Umgang mit Gerichtsüberlieferungen aus der Nazizeit, die von einem Nicht-Archivar nach groben Vorgaben des Staatsarchivs auf Archivwürdigkeit überprüft wurden. Die Kassationsentscheidung wurde ruchbar und gelangte auch an die Öffentlichkeit." Inzwischen aber herrsche ein "positives Klima" in Hamburg für Kassationen und Nachkassionen.
https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/transf_hanke.pdf
Einige Zitate aus Presseveröffentlichungen:
Hamburger Abendblatt 28. Juli 2006
"Rosenkranz möchte, daß die Menschen mehr über das Schicksal der homosexuellen Opfer erfahren. [...] Ende der 80er Jahre wurden zwar 100 000 NS-Akten freigegeben, doch dem damaligen Leiter des Hamburger Staatsarchivs waren die Schwulenakten zuviel, und er ließ 1996 Tausende davon vernichten, was ihm nicht einmal eine Rüge einbrachte, obwohl der skandalöse Fall den sogar Rechtsausschuß der Bürgerschaft beschäftigte. "Durch diesen unbedachten oder beabsichtigten Ordnungsakt wurden die Opfer ein zweites Mal vernichtet", meint Rosenkranz. Er wird nicht lockerlassen. Ende der achtziger Jahre wurden viele Akten von schwulen NS-Opfern weggeworfen - angeblich hatte das Archiv keinen Platz."
taz, die tageszeitung Mai 22, 1996
NS-Justizgeschichte im Reisswolf
Von Silke Mertins
Nicht archivwuerdig: NS-Strafakten ueber Schwule werden teilweise vernichtet
"Ein Sturm der Empoerung von WissenschaftlerInnen und Homosexuellenverbaenden ist ueber das Hamburgische Staatsarchiv und die Justizbehoerde hereingebrochen: Wie kann man ueberhaupt nur in Erwaegung ziehen, den einmaligen Hamburger Gluecksfall eines fast vollstaendigen NS-Strafaktenbestands zerstoeren zu wollen? Der Senat konnte und wollte. Im Rahmen der Ueberfuehrung der NS-Akten in den Bestand des Staatsarchivs - die Aufbewahrungspflicht war abgelaufen - wurde nach Pruefung der "Archivwuerdigkeit" aussortiert und bei Bedarf dem Reisswolf uebergeben. Betroffen sind vor allem Verfahren nach Paragraph 175: Verfolgung von Schwulen. Sie machen den groessten Teil des Aktenbestandes aus.
Nur "Bagatell-Delikte" und Verfahren, in denen keine politische oder Minderheitenverfolgung erkennbar seien, wuerden nach Einzelfallpruefung vernichtet, hiess es. "Das hat sich als Luege entpuppt", so GALierin Sabine Boehlich. Denn jetzt, so geht aus der Antowrt auf eine GAL-Anfrage hervor, gibt der Senat doch zu, dass auch andere Akten, naemlich strafrechtliche Verfolgung nach Paragraph 175, nicht weiter aufbewahrt werden und somit fuer die wissenschaftliche Forschung fuer immer verloren sind.
"Die Aussagekraft der Akten ist sehr unterschiedlich: Viele lassen nur ein routinemaessiges Verfahren erkennen", heisst es in der Senatsantwort. Wo Tatbestand und Urteil stark verkuerzt seien, reiche eine beispielhafte Aufbewahrung. Soll heissen: Der Rest wird vernichtet.
Ein Teil der historisch bedeutsamen Akten schwuler Geschichte geht verloren. Gleichzeitig wird ein einzigartig komplettes NS-Justizarchiv zerstoert, obwohl heute gar nicht absehbar ist, welchen Erkenntnisinteressen diese Dokumente, selbst "Bagatell-Delikte", fuer ForscherInnen des 21. Jahrhunderts haben koennten. Schliesslich, so die KritikerInnen, habe sich vor 15 Jahren auch noch niemand fuer das heute zentrale Thema Alltagsgeschichte interessiert."
Süddeutsche Zeitung 4. April 1996
Leserbrief von Sabine Boehlich
"In seiner Antwort auf eine von meinen drei Kleinen Anfragen hat der Senat selber zugegeben, dass auch Strafakten ueber Verfahren nach Paragraphen 175 und 175a vernichtet wurden. Dies kann nur bedeuten, dass das Hamburger Staatsarchiv die Paragraphen nicht fuer typisches NS-Recht haelt oder aber den u. a. mit der Justizbehoerde und der Forschungsstelle fuer die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg verabredeten Kriterien fuer die Aufbewahrung von Akten bei der tatsaechlichen Bearbeitung nicht gefolgt ist."
SZ 30. März 1996
Leserbrief
"Dass der in seiner Vollstaendigkeit einmalige Hamburger Bestand an NS -Strafjustizakten geschlossen haette erhalten werden muessen, ist nicht nur Prof. Dr. Finzschs Ansicht. Zahlreiche renommierte deutsche und internationale Zeithistoriker haben inzwischen entsprechende Protestbriefe an den Hamburger Buergermeister gerichtet. Norbert Finzsch hat nie behauptet, dass die meisten der NS-Strafakten gegen Homosexuelle in Hamburg vernichtet worden seien. Streitpunkt ist vielmehr, dass selbst nach den Kriterien, die vom Staatsarchiv fuer die Aussortierung formuliert worden waren, keine Akte haette vernichtet werden duerfen, in der Angehoerige verfolgter Minderheiten als Taeter oder Opfer auftauchen, also auch keine einzige Akte nach Paragraphen 175, 175a.
Diese Kriterien sind jedoch nicht eingehalten worden: Wie bereits in den Antworten auf drei Kleine Anfragen der GAL in der Buergerschaft im Sommer 1995 zugegeben werden musste und auch anderweitig nachweisbar ist, wurden Akten, die sogenannte vergessene NS-Opfergruppen betreffen, dem Reisswolf uebergeben. Dennoch verbreiten Archivleiter Loose und sein zustaendiger Abteilungsleiter, Hans-Wilhelm Eckardt, in oeffentlichen AEusserungen hierzu bis heute die Unwahrheit.
Hinzu kommt, dass nicht einmal die Anzahl und Art der vernichteten Akten dokumentiert wurde, was allen archivarischen Gepflogenheiten - auch bei Massenakten - widerspricht und somit als aeusserst unprofessionelles Vorgehen zu bezeichnen ist. Worauf sich also das blinde Vertrauen des SPD -Kulturpolitikers Kopitzsch (obendrein Historiker von Beruf!) gruendet, er traue dem Staatsarchiv nichts Boeses zu, bleibt sein Geheimnis."
SZ 12. März 1996
Schwere Vorwuerfe gegen Hamburger Staatsarchiv Wichtige Akten ueber Nazi -Opfer vernichtet?. Historiker spricht von wissenschaftlicher Katastrophe - nach Ansicht der Behoerden zu Unrecht
taz 21. Oktober 1995
"Seit 1987 sortiert und katalogisiert eine Arbeitsgruppe der Hamburger Justizbehoerde den insgesamt 100.000 Faelle umfassenden Bestand an Sondergerichts-, Land- und Amtsgerichtsakten, der in einzelnen Jahrgaengen ueber 90 Prozent der gesamten Justizakten der Zeit repraesentiert. Nach und nach sollen die Akten in das Hamburger Staatsarchiv ueberfuehrt werden. Bis heute wurden von 72.100 bewerteten Akten nur 13.600 als bewahrenswert eingeschaetzt. Der Leiter des Hamburger Staatsarchivs, Hans-Dieter Loose, haelt die Angst, Wichtiges koenne verlorengehen, fuer unbegruendet: "Homosexuelle gehoeren wie Juden und Sinti zu den Opfern des Nationalsozialismus. Diese Faelle erhalten wir komplett."
Dieser Darstellung widerspricht der Jurist Klaus Baestlein. Nach seinen Angaben wurden zwar bis vor anderthalb Jahren die Landgerichtsfaelle zum Paragraphen 175 vollstaendig erhalten, bei den Akten des Amtsgerichts hingegen wurde nur eine von drei Akten fuer archivwuerdig befunden. Baestlein muss es wissen: Er leitete bis zum Fruehjahr 1994 die Arbeitsgruppe, die die Archivierung des Aktenbestandes vorbereitete.
Nur "Bagatellfaelle", versichert Baestlein, wuerden aussortiert. Doch gerade sie koennten Aufschluesse ueber das Leben unter nationalsozialistischen Vorzeichen geben - ueber den Alltag. Genau hier liegt auch das Interesse von Sexualwissenschaftlern und Historikern wie Ruediger Lautmann, Martin Dannecker, Hans-Georg Stuemke oder Volkmar Sigusch, deren Appelle, den Aktenbestand einsehen und fuer die sozialhistorische Forschung nutzen zu koennen, bislang ungehoert blieben. Anders als im Falle von Juden oder Roma gibt es bis dato keine umfassenden Studien zum gewoehnlichen Alltag gewoehnlicher Homosexueller unter dem Hakenkreuz: Gab es Lokale? Wie schuetzte man sich vor Razzien? Gab es Solidaritaet untereinander? Oder Denunziatonen? Oder auch: Welche Richter taten sich besonders hervor, pikante Details zu erfragen? Wessen Urteile fielen drakonisch aus, wer hingegen liess ab und an Milde walten?
Vielleicht ruehren diese Fragen auch an ein Tabu der westdeutschen Erfolgsgeschichte nach dem 8. Mai 1945: Ueber die Rechtsprechung gegen Homosexuelle durch die NS-Justiz zu reden hiesse zugleich, ueber die juristische Verfolgung Schwuler durch die Nachkriegsbehoerden bis 1969 nicht schweigen zu koennen. Bekanntlich sind nur wenige Homosexuelle, die in Konzentrationslagern den Rosa Winkel tragen mussten, entschaedigt worden."
Siehe auch:
taz 13. Juli 1995, 10. August 1995.
Weitere Informationen aus dem Lager der Gegner der Kassationen (mit Replik des Staatsarchivs):
https://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_archiventsorgung_1997.html
Detaillierte Kritik der Kassationen (1999):
https://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_aktenvernichtung_1999.html
Ich erinnere mich an einen Artikel der ZEIT wohl aus den 1990ern, bei dem es um die Vernichtung von ästhetisch wertvollen Firmenbriefköpfen durch das Hamburger Staatsarchiv ging.
Ob es zu dem mit beträchtlichem öffentlichen Wirbel verbundenen Fall der Vernichtung von NS-Gerichtsakten außer anmerkungsweiser Erwähnung durch Robert Kretzschmar eine publizierte archivfachliche Debatte gab, ist mir nicht bekannt. Ich möchte es eher kategorisch verneinen.
Auf den Casus spielt Lorenzen-Schmidt in einem Interview an:
"Die Übervorsichtigkeit im Hause wurde noch gesteigert durch den nicht ganz archivgerechten Umgang mit Gerichtsüberlieferungen aus der Nazizeit, die von einem Nicht-Archivar nach groben Vorgaben des Staatsarchivs auf Archivwürdigkeit überprüft wurden. Die Kassationsentscheidung wurde ruchbar und gelangte auch an die Öffentlichkeit." Inzwischen aber herrsche ein "positives Klima" in Hamburg für Kassationen und Nachkassionen.
https://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/transf_hanke.pdf
Einige Zitate aus Presseveröffentlichungen:
Hamburger Abendblatt 28. Juli 2006
"Rosenkranz möchte, daß die Menschen mehr über das Schicksal der homosexuellen Opfer erfahren. [...] Ende der 80er Jahre wurden zwar 100 000 NS-Akten freigegeben, doch dem damaligen Leiter des Hamburger Staatsarchivs waren die Schwulenakten zuviel, und er ließ 1996 Tausende davon vernichten, was ihm nicht einmal eine Rüge einbrachte, obwohl der skandalöse Fall den sogar Rechtsausschuß der Bürgerschaft beschäftigte. "Durch diesen unbedachten oder beabsichtigten Ordnungsakt wurden die Opfer ein zweites Mal vernichtet", meint Rosenkranz. Er wird nicht lockerlassen. Ende der achtziger Jahre wurden viele Akten von schwulen NS-Opfern weggeworfen - angeblich hatte das Archiv keinen Platz."
taz, die tageszeitung Mai 22, 1996
NS-Justizgeschichte im Reisswolf
Von Silke Mertins
Nicht archivwuerdig: NS-Strafakten ueber Schwule werden teilweise vernichtet
"Ein Sturm der Empoerung von WissenschaftlerInnen und Homosexuellenverbaenden ist ueber das Hamburgische Staatsarchiv und die Justizbehoerde hereingebrochen: Wie kann man ueberhaupt nur in Erwaegung ziehen, den einmaligen Hamburger Gluecksfall eines fast vollstaendigen NS-Strafaktenbestands zerstoeren zu wollen? Der Senat konnte und wollte. Im Rahmen der Ueberfuehrung der NS-Akten in den Bestand des Staatsarchivs - die Aufbewahrungspflicht war abgelaufen - wurde nach Pruefung der "Archivwuerdigkeit" aussortiert und bei Bedarf dem Reisswolf uebergeben. Betroffen sind vor allem Verfahren nach Paragraph 175: Verfolgung von Schwulen. Sie machen den groessten Teil des Aktenbestandes aus.
Nur "Bagatell-Delikte" und Verfahren, in denen keine politische oder Minderheitenverfolgung erkennbar seien, wuerden nach Einzelfallpruefung vernichtet, hiess es. "Das hat sich als Luege entpuppt", so GALierin Sabine Boehlich. Denn jetzt, so geht aus der Antowrt auf eine GAL-Anfrage hervor, gibt der Senat doch zu, dass auch andere Akten, naemlich strafrechtliche Verfolgung nach Paragraph 175, nicht weiter aufbewahrt werden und somit fuer die wissenschaftliche Forschung fuer immer verloren sind.
"Die Aussagekraft der Akten ist sehr unterschiedlich: Viele lassen nur ein routinemaessiges Verfahren erkennen", heisst es in der Senatsantwort. Wo Tatbestand und Urteil stark verkuerzt seien, reiche eine beispielhafte Aufbewahrung. Soll heissen: Der Rest wird vernichtet.
Ein Teil der historisch bedeutsamen Akten schwuler Geschichte geht verloren. Gleichzeitig wird ein einzigartig komplettes NS-Justizarchiv zerstoert, obwohl heute gar nicht absehbar ist, welchen Erkenntnisinteressen diese Dokumente, selbst "Bagatell-Delikte", fuer ForscherInnen des 21. Jahrhunderts haben koennten. Schliesslich, so die KritikerInnen, habe sich vor 15 Jahren auch noch niemand fuer das heute zentrale Thema Alltagsgeschichte interessiert."
Süddeutsche Zeitung 4. April 1996
Leserbrief von Sabine Boehlich
"In seiner Antwort auf eine von meinen drei Kleinen Anfragen hat der Senat selber zugegeben, dass auch Strafakten ueber Verfahren nach Paragraphen 175 und 175a vernichtet wurden. Dies kann nur bedeuten, dass das Hamburger Staatsarchiv die Paragraphen nicht fuer typisches NS-Recht haelt oder aber den u. a. mit der Justizbehoerde und der Forschungsstelle fuer die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg verabredeten Kriterien fuer die Aufbewahrung von Akten bei der tatsaechlichen Bearbeitung nicht gefolgt ist."
SZ 30. März 1996
Leserbrief
"Dass der in seiner Vollstaendigkeit einmalige Hamburger Bestand an NS -Strafjustizakten geschlossen haette erhalten werden muessen, ist nicht nur Prof. Dr. Finzschs Ansicht. Zahlreiche renommierte deutsche und internationale Zeithistoriker haben inzwischen entsprechende Protestbriefe an den Hamburger Buergermeister gerichtet. Norbert Finzsch hat nie behauptet, dass die meisten der NS-Strafakten gegen Homosexuelle in Hamburg vernichtet worden seien. Streitpunkt ist vielmehr, dass selbst nach den Kriterien, die vom Staatsarchiv fuer die Aussortierung formuliert worden waren, keine Akte haette vernichtet werden duerfen, in der Angehoerige verfolgter Minderheiten als Taeter oder Opfer auftauchen, also auch keine einzige Akte nach Paragraphen 175, 175a.
Diese Kriterien sind jedoch nicht eingehalten worden: Wie bereits in den Antworten auf drei Kleine Anfragen der GAL in der Buergerschaft im Sommer 1995 zugegeben werden musste und auch anderweitig nachweisbar ist, wurden Akten, die sogenannte vergessene NS-Opfergruppen betreffen, dem Reisswolf uebergeben. Dennoch verbreiten Archivleiter Loose und sein zustaendiger Abteilungsleiter, Hans-Wilhelm Eckardt, in oeffentlichen AEusserungen hierzu bis heute die Unwahrheit.
Hinzu kommt, dass nicht einmal die Anzahl und Art der vernichteten Akten dokumentiert wurde, was allen archivarischen Gepflogenheiten - auch bei Massenakten - widerspricht und somit als aeusserst unprofessionelles Vorgehen zu bezeichnen ist. Worauf sich also das blinde Vertrauen des SPD -Kulturpolitikers Kopitzsch (obendrein Historiker von Beruf!) gruendet, er traue dem Staatsarchiv nichts Boeses zu, bleibt sein Geheimnis."
SZ 12. März 1996
Schwere Vorwuerfe gegen Hamburger Staatsarchiv Wichtige Akten ueber Nazi -Opfer vernichtet?. Historiker spricht von wissenschaftlicher Katastrophe - nach Ansicht der Behoerden zu Unrecht
taz 21. Oktober 1995
"Seit 1987 sortiert und katalogisiert eine Arbeitsgruppe der Hamburger Justizbehoerde den insgesamt 100.000 Faelle umfassenden Bestand an Sondergerichts-, Land- und Amtsgerichtsakten, der in einzelnen Jahrgaengen ueber 90 Prozent der gesamten Justizakten der Zeit repraesentiert. Nach und nach sollen die Akten in das Hamburger Staatsarchiv ueberfuehrt werden. Bis heute wurden von 72.100 bewerteten Akten nur 13.600 als bewahrenswert eingeschaetzt. Der Leiter des Hamburger Staatsarchivs, Hans-Dieter Loose, haelt die Angst, Wichtiges koenne verlorengehen, fuer unbegruendet: "Homosexuelle gehoeren wie Juden und Sinti zu den Opfern des Nationalsozialismus. Diese Faelle erhalten wir komplett."
Dieser Darstellung widerspricht der Jurist Klaus Baestlein. Nach seinen Angaben wurden zwar bis vor anderthalb Jahren die Landgerichtsfaelle zum Paragraphen 175 vollstaendig erhalten, bei den Akten des Amtsgerichts hingegen wurde nur eine von drei Akten fuer archivwuerdig befunden. Baestlein muss es wissen: Er leitete bis zum Fruehjahr 1994 die Arbeitsgruppe, die die Archivierung des Aktenbestandes vorbereitete.
Nur "Bagatellfaelle", versichert Baestlein, wuerden aussortiert. Doch gerade sie koennten Aufschluesse ueber das Leben unter nationalsozialistischen Vorzeichen geben - ueber den Alltag. Genau hier liegt auch das Interesse von Sexualwissenschaftlern und Historikern wie Ruediger Lautmann, Martin Dannecker, Hans-Georg Stuemke oder Volkmar Sigusch, deren Appelle, den Aktenbestand einsehen und fuer die sozialhistorische Forschung nutzen zu koennen, bislang ungehoert blieben. Anders als im Falle von Juden oder Roma gibt es bis dato keine umfassenden Studien zum gewoehnlichen Alltag gewoehnlicher Homosexueller unter dem Hakenkreuz: Gab es Lokale? Wie schuetzte man sich vor Razzien? Gab es Solidaritaet untereinander? Oder Denunziatonen? Oder auch: Welche Richter taten sich besonders hervor, pikante Details zu erfragen? Wessen Urteile fielen drakonisch aus, wer hingegen liess ab und an Milde walten?
Vielleicht ruehren diese Fragen auch an ein Tabu der westdeutschen Erfolgsgeschichte nach dem 8. Mai 1945: Ueber die Rechtsprechung gegen Homosexuelle durch die NS-Justiz zu reden hiesse zugleich, ueber die juristische Verfolgung Schwuler durch die Nachkriegsbehoerden bis 1969 nicht schweigen zu koennen. Bekanntlich sind nur wenige Homosexuelle, die in Konzentrationslagern den Rosa Winkel tragen mussten, entschaedigt worden."
Siehe auch:
taz 13. Juli 1995, 10. August 1995.
Weitere Informationen aus dem Lager der Gegner der Kassationen (mit Replik des Staatsarchivs):
https://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_archiventsorgung_1997.html
Detaillierte Kritik der Kassationen (1999):
https://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/art_aktenvernichtung_1999.html
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